„Form Follows Function“ – dieser von Louis Sullivan geprägte Leitsatz galt lange Zeit als Dogma in Design und Architektur, nach dem die Funktion die Form bestimmen sollte. In der heutigen Welt technisch ausgereifter Produkte stellt sich jedoch die Frage nach der Gültigkeit dieses Prinzips.
Am Beispiel von Smartphones wird deutlich, dass bei vergleichbarer technischer Ausstattung, abgesehen vom Betriebssystem, oft Design und Ästhetik über den Kauf entscheiden. Dies führt zu der These, dass manchmal das Design wichtiger sein könnte als die reine Funktion – „Function follows form“.
In unserer visuell geprägten Gesellschaft kann Design zum entscheidenden Erfolgsfaktor werden. Produkte müssen heutzutage nicht nur funktionieren, sondern als Lifestyle-Statements begeistern.
Historischer Kontext
Die Geschichte des Produktdesigns zeigt einen bemerkenswerten Wandel der Designphilosophien. Louis Sullivan prägte 1896 für die Architektur den Grundsatz „Form Follows Function“ – die Form soll der Funktion folgen. Das Bauhaus entwickelte daraus in den 1920er Jahren eine umfassende Designphilosophie, die von klaren Linien und Funktionalität geprägt war.
In den 1960er Jahren begann die Pop-Art-Bewegung, diese strenge Sachlichkeit in Frage zu stellen. Designer wie Verner Panton entwarfen Möbel, die mehr Kunstwerk als Gebrauchsgegenstand waren. Der Aufstieg der Computerindustrie trieb den Paradigmenwechsel weiter voran. Als Steve Jobs in den 1970er Jahren darauf bestand, dass auch das Innere der Apple-Computer ästhetisch gestaltet sein müsse – obwohl dies keinerlei funktionalen Nutzen hatte – wurde er belächelt. Heute wissen wir: Er hatte einen Nerv getroffen. In einer Welt der technischen Standardisierung ist Design zum entscheidenden Differenzierungsmerkmal geworden. Seine Aussage „Design is not just what it looks like and feels like. Design is how it works“ ist bis heute ikonisch.
Die Digitalisierung hat diesen Trend verstärkt: Durch die Miniaturisierung sind die funktionalen Unterschiede geringer geworden, während neue Fertigungstechnologien innovative Designs ermöglichen. Der aktuelle Retro-Trend zeigt, wie die Form zum emotionalen Bedeutungsträger wird – etwa bei Plattenspielern oder Kameras im klassischen Design.
Diese geschichtliche Entwicklung zeigt: Das Verhältnis von Form und Funktion war nie so eindeutig, wie es die modernistische Formel suggerierte. Vielmehr stehen beide in einem ständigen Dialog, der von technologischen Möglichkeiten, kulturellen Strömungen und gesellschaftlichen Bedürfnissen geprägt ist. In der heutigen Zeit, in der technische Perfektion zum Standard geworden ist, gewinnt die Form als Bedeutungsträger und Differenzierungsmerkmal zunehmend an Bedeutung.
Psychologie des Designs
Design ist weit mehr als reine Ästhetik – es prägt grundlegend unsere emotionale Bindung an Produkte. Innerhalb von Millisekunden fällen Menschen emotionale Urteile über das Design eines Produktes, die die weitere Wahrnehmung nachhaltig beeinflussen. Ein faszinierendes Phänomen ist dabei der „Aesthetic-Usability-Effect“ : Attraktiv gestaltete Produkte werden als benutzerfreundlicher wahrgenommen, auch wenn dies objektiv nicht der Fall ist.
Aus neurologischer Sicht aktiviert ansprechendes Design ähnliche Hirnareale wie zwischenmenschliche Anziehung und führt zur Ausschüttung von Glückshormonen. Dies erklärt unsere oft irrationale Anziehung durch schön gestaltete Produkte. Die Kaufentscheidung wird von mehreren psychologischen Faktoren bestimmt: Wir wählen Produkte, die unser Selbstbild widerspiegeln, soziale Zugehörigkeit signalisieren und uns haptisch und ästhetisch ansprechen.
Ein besonders interessantes Beispiel ist der „IKEA-Effekt“ : Menschen schätzen Produkte höher, wenn sie selbst zu ihrer Entstehung beigetragen haben. Die Design-Thinking-Bewegung nutzt solche Erkenntnisse gezielt, um emotionale Nutzererlebnisse zu schaffen. Design wird so zur „emotionalen Schnittstelle“ zwischen Mensch und Technik.
Diese emotionale Komponente hat auch praktische Konsequenzen: Gut gestaltete Produkte werden länger genutzt, weil sich Menschen schwerer von ihnen trennen – ein wichtiger Aspekt für mehr Nachhaltigkeit. Form und Funktion sind keine Gegensätze: Ein emotional ansprechendes Design fördert die Nutzung und damit die Funktionalität des Produkts.
Mögliche Besipiele für „Function Follows Form“
Die Geschäftswelt bietet faszinierende Beispiele dafür, wie bahnbrechendes Design nicht nur den Markt erobern kann, sondern auch neue funktionale Standards setzt. Hier sind beispielshaft drei besonders markante Fälle:
Bang & Olufsen BeoCom 2 (2002)

Das „Bananentelefon“ brach radikal mit dem klassischen Telefondesign. Seine geschwungene Form folgte zwar der natürlichen Kopf-zu-Mund-Bewegung und passte sich der Gesichtskontur an, aber Größe und Tastatur waren nicht unbedingt „benutzerfreundlich“. Die ungewöhnliche Ästhetik wurde jedoch für viele zum Verkaufsargument.
Apple iMac G3 (1998)

via Wikipedia
Der transparente, farbige All-in-One-Computer revolutionierte die PC-Industrie. Seine verspielte Form brach mit dem damals üblichen beigen Desktop-Design. Die durchscheinende Hülle hatte keinen funktionalen Nutzen, machte Computer aber erstmals zu Lifestyle-Objekten und erschloss ihnen neue Zielgruppen. Er diente im Pyngu Magazin bereits als Beispiel in unserem Artikel über die „Rool of Cool im Design.“
Cubic Houses, Rotterdam (1984)

Ein Beispiel aus der Architektur sind die Cubic Houses in Rotterdam. Dabei handelt es sich um würfelförmige Wohneinheiten, die um 45 Grad geneigt sind. Durch die schrägen Wände sind nur etwa 25% der Grundfläche voll nutzbar.
Diese Beispiele zeigen ein wiederkehrendes Muster: Radikale Designinnovationen, die zunächst als rein ästhetische Experimente erscheinen, führen oft zu überraschenden funktionalen Durchbrüchen. Die Form wird zum Katalysator der Innovation, indem sie eingefahrene Denkmuster aufbricht und neue Möglichkeiten eröffnet.
Bemerkenswert ist, dass viele dieser Produkte trotz – oder gerade wegen – ihres hohen Preises erfolgreich sind. Sie beweisen, dass Konsumenten bereit sind, für außergewöhnliches Design mehr zu bezahlen, wenn es eine überzeugende Geschichte erzählt und einen überzeugenden, optischen Mehrwert bietet.
Die wissenschaftliche Perspektive
Der Zusammenhang zwischen Form und Funktion ist wissenschaftlich erwiesen. Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass ästhetisches Design das Belohnungszentrum aktiviert und die Amygdala, ein zentraler Bereich des Gehirns, der Erregungen wahrnimmt, stärker anspricht als rein funktionales Design, was zu einer höheren Nutzungszufriedenheit führt.
Der „Aesthetic-Usability-Effect“ belegt: Nutzer bewerten attraktive Interfaces als benutzerfreundlicher, selbst bei identischer Funktionalität. UX-Forschung zeigt, dass Nutzer bei hochwertigem Design mehr Zeit mit der aktiven Nutzung verbringen, harmonische Interfaces schneller erfasst werden und die Fehlerquote bei der Erstnutzung sinkt.
Die Peak-End-Regel erklärt auch die Bedeutung von Design: Menschen bewerten Erlebnisse vor allem nach Höhepunkt und Ende. Kulturübergreifende Studien zeigen überraschende Übereinstimmungen in ästhetischen Präferenzen, die auf evolutionär verankerte Designvorlieben hindeuten.
Die Forschung belegt: Designwirkung ist kein subjektives Geschmacksurteil, sondern kann auch ein messbarer Erfolgsfaktor sein.
Kritische Betrachtung und Grenzen
Der Ansatz „Function Follows Form“ zeigt trotz überzeugender Argumente auch deutliche Grenzen und mögliche Probleme auf. Herausragendes Design verursacht höhere Entwicklungs- und Produktionskosten durch innovative Formgebung, hochwertige Materialien und komplexe Fertigungsprozesse. Dies wirft die ethische Frage auf, ob gutes Design zu einem Luxusgut wird.
Funktionale Kompromisse sind oft die Folge von Designprioritäten: Ultraflache Laptops mit eingeschränkter Leistung, Smartphones ohne Kopfhöreranschluss oder ästhetische, aber unbequeme Möbel zeigen, dass Designentscheidungen die Gebrauchstauglichkeit beeinträchtigen können. Auch Nachhaltigkeitsaspekte sind kritisch zu sehen, wenn designgesteuerte Produktzyklen zu schnellerer Obsoleszenz führen. Hochwertiges Design kann aber auch durch emotionale Bindung zu einer längeren Nutzungsdauer führen.
Kulturelle und technologische Grenzen setzen weitere Rahmenbedingungen: Designpräferenzen unterscheiden sich weltweit und nicht jede innovative Form ist technisch umsetzbar. Auch besteht die Gefahr des „Over-Engineering“, wenn das Design die Usability beeinträchtigt, wie beispielsweise beim gescheiterten Windows 8 Interface.
Die Lösung liegt in der Balance: Erfolgreiches Produktdesign muss funktionale Anforderungen erfüllen, ästhetisch überzeugen, wirtschaftlich realisierbar sein und dabei Nachhaltigkeits-, Kultur- und Technologieaspekte berücksichtigen. „Function Follows Form“ kann nicht als absolutes Prinzip gelten, sondern erfordert einen ausgewogenen Ansatz, der Form und Funktion gleichberechtigt behandelt.
Fazit
Die intensive Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Form und Funktion macht deutlich: Die traditionelle Debatte um die Vorrangstellung des einen oder anderen Aspektes ist überholt. In der modernen Produktentwicklung geht es um die intelligente Integration beider Dimensionen, die sich gegenseitig bereichern und verstärken.
Die Analyse erfolgreicher Produkte zeigt, dass die strikte Trennung zwischen funktionalen und ästhetischen Aspekten künstlich ist. Herausragendes Design schafft eine Synthese, in der die Form neue funktionale Möglichkeiten eröffnet und gleichzeitig emotionale Bedürfnisse befriedigt.
Die zentrale Erkenntnis lautet: Form und Funktion entwickeln sich gemeinsam in einem dynamischen Wertschöpfungsprozess. Es bleibt ratsam, beide Aspekte von Anfang an als gleichberechtigte Partner im Entwicklungsprozess der Produktentwicklung zu behandeln.
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Pyngu Digital